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YoudoYou

YoudoYou, oder warum wir über Fettphobie in Krisenzeiten reden sollten.

Gesund bleiben, auch in Quarantänezeiten viel Salat essen. Jeden Tag Sport machen, schließlich bieten doch alle möglichen FitnessexpertInnen und YogalehrerInnen online Kurse an. Kein Grund dick zu werden und ungesund zu sein, wenn man in Quarantäne sitzt. Na danke, denke ich mir da, schlucke gerade einen Bissen von meinem Schokoladeosterhasen runter und lasse den Blick über meinen Bauch schweifen. Nicht zum ersten Mal denke ich über Druck nach, darüber wie schlecht ich mich fühle, wenn ich zurzeit durch Social Media schaue und fange an mich so richtig zu ärgern.

Wien, 2 Uhr morgens

Wien, 25. März 2:30 Uhr morgens. Alles ist ruhig, richtig still. Nicht ein einziges Auto fährt an meinem Fenster vorbei. Dies ist deshalb so bemerkenswert, weil ich eigentlich an einer eher stärker befahrenen Straße wohne, an der auch nachts gerne einmal Autofahrer unterwegs sind. Doch gerade, nichts. Allerdings wundert mich das natürlich gerade nicht. Die Quarantäne, die in Folge des Corona Virus vorherrscht, lässt Wien aktuell sehr ruhig wirken.

Mein sonst so geschäftiges Wien ist in großen Teilen ganz still geworden. Das ist ungewohnt und unheimlich. Zur Ablenkung scrolle ich deshalb noch einmal kurz durch Instagram und schaue mir einige Stories an. Das hätte ich aber lieber mal bleiben lassen sollen. Denn ständig lese ich zurzeit in Posts, dass wir uns jetzt nicht gehen lassen sollen. Fitnesstipps gibt es dabei eine Unmenge, ebenso wie Rezepte für gesünderes Kochen.

„Kein Grund dick zu werden, kein Grund ungesund zu sein, wir sind aktiv und machen weiter, Corona zum Trotz, bald ist es vorbei!“, diese Slogans kann man zurzeit so oder so ähnlich oft lesen.

Von stressiger Geschäftigkeit

Dabei überkommt mich jedes Mal ein unangenehmes Gefühl und (mein Staatsfeind Nummer 1) ein schlechtes Gewissen. Was stimmt nur nicht mit mir? Seit dem in Kraft treten der Quarantäne Maßnahmen mache ich mir nämlich Sorgen. Um meine Familie, meine Gesundheit, mein wirtschaftliches Fortkommen als Selbstständige und noch viel mehr um die Zukunft. Ich kann nicht „einfach“ zur Tagesordnung übergehen und meinen perfekten Tagesablauf zu Hause finden. Vor allem in den ersten Tagen war ich einmal eines: Traurig und verängstigt.

Während gefühlt tausende Menschen um mich herum in stressige Geschäftigkeit ausbrauchen und planten und ihre Geschäfte umstellten saß ich in der Mitte und wusste nich so recht wo hin mit mir. Alle Pläne und Ideen für die nächsten Wochen und Monate wurden auf „hold“ gestellt. Pausiert, verschoben und das auf teilweise unbestimmte Zeit.

Das lässt mich „geschwächt“ zurück. Beunruhigt. Diese Schwäche scheint jedoch nicht angebracht. Es geht dagegen anzugehen. Etwas zu tun, neu zu denken, neu zu planen oder aber einfach die Zeit möglichst sinnvoll zu nützen um sich auf das Danach vorzubereiten, das so sein wird die früher oder auch nicht, weil sich alles verändern wird. Das ist ein noch strittiges Thema.

Deshalb also: To Do Liste Schreiben, eine Routine für zu Hause entwickeln, ausreichend Obst und Gemüse auf den Essenplan stellen und laufen gehen bzw. zu Hause Yoga machen. Jetzt nicht nachlassen.

..und tiefer Traurigkeit

Doch ich spüre wie ich nachlasse. Obwohl ich Homeoffice gewöhnt bin, fühlt sich jetzt alles anders an. Je geschäftiger die anderen werden, desto mehr verfalle ich in eine Starre. Dabei muss ich immer an das Verhalten von Opossums denken, wenn Gefahr droht – sich tot zu stellen. So fühlt sich das manchmal nämlich an.

Dazu kommt, dass – egal wie sehr ich mit mir und meinem Körper im Reinen bin – ein Gefühl des schlechten Gewissens einsetzt. Denn normaler Weise bin ich in meinem beruflichen Alltag viel unterwegs. In Bewegung. Zurzeit bewege ich mich eher abwechselnd vom Schlafzimmer ins Bad bzw. in Wohnzimmer. Gehe abends eine Runde spazieren. Mein Bewegungsradius ist also, wie bei allen, stark eingeschränkt. Das ist natürlich noch nicht alles, denn ich esse ja auch noch weiter. Esse die Karotten ebenso wie die Kartoffel, den Brokkoli oder auch den Osterschokoladehasen.

Dabei probiere ich zurzeit viele neue Rezepte aus, backe und freue mich, wenn es schmeckt. Denn Essen ist etwas, das ich immer schon gerne getan habe. Immer. Krise hin oder her. Kritisiert wurde ich für mein Essverhalten schon vor Quarantänezeiten. Ohne, dass die Menschen wirklich wussten was ich esse. Schließlich war ich schon immer dick. Während mir aber jetzt niemand in einem Restaurant auf den Teller schaut, erklären mir die Menschen nämlich jetzt in allen Medien, dass ich besonders in der aktuellen Situation beim Essen aufpassen soll. Damit wir nicht alle dick werden, essen wir besser kontrolliert.

Fettphobie in Krisenzeiten

Jeder Mensch ist anders, keine Frage. Geschäftigkeit ist kein Fehler, neue Projekte ebenso wenig. Doch gibt es bei allem Antrieb auch die andere Seite der Medaille: Fettphobie. Nein, das ist kein Witz. Ja, wir haben gerade große Probleme, Covid-19 ist ein mega Problem, bei dem wir alle aufgerufen sind, uns an der Bekämpfung zu beteiligen.

Doch führen Krisenzeiten oft noch deutlicher vor Augen, was schon in nicht Krisenzeiten problematisch ist. „Bloß nicht fett werden“ ist die Parole der Stunde. Vor allem auf Instagram kursieren Posts & Stories die das propagieren. Für Menschen wie mich, die, nun sprechen wir es einmal unumwunden an, fett sind, ist das übrigens ziemlich beleidigend und stigmatisierend. Ebenso für Menschen die chronisch krank sind.

Wen wundert das eigentlich. Auch in nicht Krisenzeiten ist das ja bereits so. Schon des Öfteren habe ich hier über verletzende Worte & Werbesujets geschrieben, die dicke Menschen stigmatisieren und ins Lächerliche ziehen. Doch die aktuelle Situation bringt noch etwas ganz anderes mit sich. So sind wir gerade alle eingeschränkt. In unserem Alltag, unserer Bewegungsfreiheit, unseren Leben. Das macht uns alle gleich. Das verängstigt viele von uns. Ob dick oder nicht. Diese Angst kann sich auf verschiedenste Lebensbereiche auswirken. Auch auf das körperliche Wohlbefinden.

Schokolade & Selbsthass

So haben mir einige Followerinnen geschrieben, dass sie ein total schlechtes Gewissen nach dem Schokolade essen bekommen haben. Sich richtig schlecht fühlen. Weil sie angeblich etwas Dummes gemacht haben. Essen mit solch negativen Gefühlen zu assoziieren kann schlimme Folgen haben.

Das sehe ich bei mir: Ich stelle mich vor den Spiegel und überlege, was ich heute schon gegessen habe. Dabei gehe ich das Frühstück durch, denke über jede Gurke, jedes Stück Käse und über jeden einzelnen Bissen Schokolade nach. Ich fange an mich zu fragen, ob ich jetzt dicker werde und was das aus mir macht. Was bedeutet das?

„Werde ich jetzt noch dicker?“, frage ich mich. Wie? Noch? Was ist denn hier los??? Ich bin jetzt 39 Jahre alt und habe mehr als die Hälfte meines Lebens damit verbracht darauf hin zu arbeiten mich gut mit mir zu fühlen. Ich schreibe gegen Vorurteile an, setze mich in Talkshows, um gegen falsche Vorstellungen und Unverständnis anzureden. Ja, ich habe sogar einen Beruf daraus gemacht, um gegen Hass und auch Selbsthass anzugehen. Dennoch stehe ich jetzt hier und fange an meinen Körper so zu sehen, wie es gesellschaftlich akzeptiert wird.

Als unförmig, unschön, als zu dick und ungesund. Selbsthass kriecht in den frühen Morgenstunden in mir hoch. Wie kann ich nur, wie kann ich mich nur so gehen lassen. Angst gesellt sich dazu und flüstert mir ins Ohr, dass ich bald in keine Hose mehr passen werde und es mir schlecht gehen wird. Dazu kommt, dass ich mein Business nicht weiterbringen werde, dass alles einstürzt und meine Zukunft in Scherben liegt. Wie furchtbar, was soll ich nur machen……

Mein Herz schlägt schnell, ich bekomme keine Luft und Tränen laufen mir die Wangen runter. Noch einmal schaue ich in den Spiegel und mir in die Augen und da passiert es: ich werde wütend!

STOP!!!!!

Am liebsten würde ich ganz laut schreien so wütend bin ich. Allerdings besinne ich mich eines Besseren und denke mir, dass das um 3 Uhr morgens wohl nicht sehr passend wäre. Doch genau diese Wut ist es, die mich wieder zur Besinnung bringt. STOP sage ich laut zu mir selbst, STOP.

„Hör auf dich schlecht zu machen, lass dich nicht in diesen Strudel aus Selbsthass und Angst ziehen, du weißt wer du bist! YoudoYou!“, füge ich laut hinzu.

YoudoYou sage ich dabei ganz bewusst. Ich mache, was mir guttut, ich lasse mir nicht vorschreiben, was für mich richtig ist. Ich fange wieder an mehr auf mich selbst und meinen Körper zu hören. Ganz bewusst gehe ich auf Abstand zu Social Media. Für einige Tage, um zu überlegen, wie ich mit dieser Situation umgehen soll, wie ich mich verhalten soll. Dann fange ich an das zu tun, was ich in letzter Zeit viel zu sehr vernachlässigt habe, ein wichtiges Ventil für mich: ich fange an zu schreiben.

YoudoYou

Jeder Mensch ist anders. Während die einen ohne Sport nicht auskommen, fühlen sich andere zu Hause wohler. Die einen kochen und backen gerne, die anderen essen eigentlich lieber in Restaurants. Während es UnternehmerInnen gibt, für die die aktuelle Situation ein Antrieb ist, sind andere vor Angst wie gelähmt.

Wichtig ist: Das eine ist nicht richtiger als das Andere! Das gilt auch für Körpergewicht und Essverhalten! YoudoYou, ihr macht, was gut für euch ist! Nehmt euch die Zeit, die ihr braucht.

Wenn es euch schlecht geht, schreibt doch einer Freundin oder einem Freund, oder ruft an.  Meldet euch von Instagram & Co ab, schließt die App, schaut einfach nicht rein. Gewinnt Abstand. Meldet euch auch gerne bei mir, lasst uns reden, lasst uns gemeinsam dagegen anschreien. Wir haben alle Angst, wir fühlen uns alle einmal allein oder sind mit uns und unseren Körpern unzufrieden. Doch auch die aktuelle Ausnahmesituation sollte uns nicht davon abhalten für das zu kämpfen was uns guttut, wer wir sind. Dick ist nicht gleich schlecht. Lieber zu Hause zu bleiben als raus zu gehen ist nichts Schlimmes.

Gerne zu Essen ist keine Sünde. Wenn ihr das Gefühl habt, es tut euch nicht gut und euer Essverhalten macht euch Sorge, dann sucht euch bitte psychologische Hilfe, wenn euch FreundInnen nicht mehr weiterhelfen können. Es gibt aktuell auch einige tolle body positive Initiativen für mehr Wohlbefinden und Austausch au Facebook. So zum Beispiel Corona Connect by Queer Bodyworkers Vienna:

https://www.facebook.com/groups/206168927152653/

Dort findet ihr Gleichgesinnte die euch verstehen und könnt euch Austauschen oder bei diversen Online Workshops mitmachen.

Wie immer ihr diese Ausnahmesituation auch meistert eines ist wichtig und vergesst das bitte nicht YoudoYou und keiner kann euch etwas anderes vorschreiben!

 

Fotografin Titelbild: Bianca Kübler Photography

Ich liebe Mode – schon immer, bin kurvig seit ich mich erinnern kann und kann heute mit Fug und Recht behaupten, dass ich mich mag. Die Plus Size Welt ist bunt und vielfältig. Das möchte ich zeigen und habe deshalb nach Jahren in der PR-Branche beschlossen, jetzt nur noch PR für Curvect zu machen.

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